Wenn du ein Projekt freiwillig übernimmst, verleiht die damit verbundene Herausforderung ihm einen Wert. Du machst dich als die Person bekannt, die diese Herausforderungen gemeistert hat. Wenn du für ein Projekt bezahlt oder dazu gezwungen wirst, nehmen die Herausforderungen den Wert weg. Sie sind dann ein Ärgernis oder ein Beweis für mangelnde Planung durch den:die Projektleiter:in. Wenn du schon bezahlt wirst, dann lieber für etwas, das weniger lästig ist. Aus diesem Grund ist es angenehmer, eine Arbeit auszuführen, die man sich ausgesucht hat, als eine Arbeit, die einem aufgetragen wurde. Im Grunde genommen geht es hier um selbstbestimmte Handlungsfähigkeit. Im Englischen wird hierfür das Wort agency verwendet, welches aus dem Lateinischen Wort agēns / agere rührt (“to act” – „agieren“). Eine genaueres Wort wäre im Deutschen vielleicht „Agierfähigkeit“.
Handlungsfähigkeit versus Bequemlichkeit
Eigenverantwortung ist wichtiger als Bequemlichkeit. Betrachte die Lebensbedingungen, die du den Bedingungen im Gefängnis vorziehen würdest. Würdest du die Möglichkeit in Kauf nehmen, eine Mahlzeit zu verpassen, um nicht an einem Ort zu sein, an dem drei Mahlzeiten am Tag garantiert sind? Wärst du bereit, mit einer zusätzlichen Decke zu schlafen, um einen Ort mit garantierter Heizung zu meiden? Wärst du bereit, ein Unternehmen zu gründen, das vielleicht scheitert, um ein Unternehmen zu vermeiden, das garantiert erfolgreich ist? Im Allgemeinen sind Menschen bereit, für das bloße Privileg der selbstbestimmten Handlungsfähigkeit Bedingungen zu ertragen, die schlimmer sind als ein Gefängnis.
Nutze sie oder verliere sie
Geht die selbstbestimmte Handlungsfähigkeit verloren, setzt das einen Teufelskreis in Gang. Wenn du jemanden dafür bezahlst, eines deiner Probleme zu lösen – sei es ein:e Klempner:in, ein Life Coach, ein:e Schneider:in usw.–, verlierst du nicht nur die Möglichkeit zu lernen, sondern du musst auch für das Geld arbeiten. Du gehorchst dem:derjenigen, der:die dein Gehalt zahlt. Die meisten von uns haben Jobs, die sehr weit von der Realität entfernt sind: Versicherungsformulare zu stempeln etwa hat nur indirekt etwas mit der Realität zu tun. Das Programmieren von Datenbanken ist eine Arbeit innerhalb einer ganz eigenen Realität. Der Mangel an Erfahrungen in der realen Welt und das damit verbundene fehlende Selbstvertrauen machen uns noch abhängiger von Fachleuten und vorbereiteten Lösungen. Wir werden immer abhängiger von anderen Menschen, die die Bedingungen für unsere Erfahrungen festlegen.
Kultiviere deine Erfahrung
Es gibt nichts Wichtigeres als die Qualität deiner Erfahrungen. Materielle Besitztümer zu haben ist wichtig, aber es ist möglich, mit ihnen eine schäbige Erfahrung zu machen, wie wenn ein wohlhabender Mensch inmitten des materiellen Komforts zum:zur Alkoholiker:in wird. Andererseits kann die Überwindung eines Mangels an materiellem Besitz eine epische Erfahrung sein. Überlebensgeschichten eignen sich hervorragend für Romane und Filme.
Materieller Komfort beeinflusst zwar deine Erfahrung, ist aber kein Ziel. Ein Gutshaus ist entweder ein Paradies oder ein Gefängnis, je nachdem, ob du die:der Besitzer:in oder ein:e Bedienstete bist. Ein:e Bergsteiger:in zieht die rauen Bedingungen eines Berggipfels einer warmen Wohnung vor. Die Qualität der Erfahrung ist das Einzige, was zählt.
Wenn du an ein Leben nach dem Tod glaubst, was auch immer das sein mag, ist das Handeln dort noch wichtiger. Wenn du stirbst, kannst du nichts mitnehmen, also ist jede materielle Belohnung wie ein Auto oder ein Haus, die man für den Verzicht auf Eigenverantwortung bekommen könnte, verloren. Wenn du glaubst, dass es etwas gibt, das du mitnehmen kannst, dann ist es das, was du durch deine Erfahrungen auf der Erde kultiviert hast. Wenn du glaubst, dass es ein Leben nach dem Tod gibt, frage dich, auf was für ein Leben nach dem Tod du dich vorbereitest. Wenn du dir beigebracht hast, Bequemlichkeit zu suchen, Strafen zu vermeiden und anderen zu gehorchen, ist das entsprechende Leben nach dem Tod eine Hölle. Die Hauptaktivitäten der Bewohner:innen einer Hölle wären das Streben nach Bequemlichkeit, das Vermeiden von Bestrafung und der Gehorsam gegenüber jenen, die diese Faktoren kontrollieren.
Bedeutet Agierfähigkeit die Fähigkeit, alles zu tun, was du willst? Ja – im Prinzip schon. Sie ist jedoch selbstbegrenzend. Du könntest zum Beispiel denken, dass Milliardär:innen am meisten Handlungsspielraum haben, weil sie das Geld haben, um ihre Wünsche zu verwirklichen. Doch nur sehr wenige Milliardär:innen kommen in den Genuss davon. Der Grund dafür ist, dass ihre Aufmerksamkeit auf das gerichtet ist, was sie überhaupt zu Milliardär:innen gemacht hat. Sie müssen auf die Marktkräfte, die Handlungen von Konkurrent:innen, den möglichen Ungehorsam von Untergebenen, die staatlichen Aufsichtsbehörden usw. achten. Ihre Aktivitäten werden Monate im Voraus geplant. Ihre Freiheit ist eigentlich ziemlich begrenzt.
Finde den „Sweet Spot“
Wenn es nur sehr wenige Menschen mit großer Entscheidungsmacht gibt, muss diese Macht genutzt werden, um diese Macht zu schützen. Das ist eine logische Konsequenz von Machtkonzentration – sie unterliegt der natürlichen Auslese: Denn wenn die Machtkonzentration ihre Konzentration nicht schützt, wird sie verteilt.
Sie ist nicht mehr das, was sie einmal war. Sie hört auf zu existieren. Wenn sie existieren soll, muss sie dazu benutzt werden, die selbstbestimmte Handlungsfähigkeit derjenigen auszuschalten, die sie herausfordern könnten. Ressourcen müssen umgelenkt und Strafen verhängt werden. Wenn dem Wohl der Gesellschaft so gedient wird, handelt es sich um eine düstere Version des Dienens.
Der „Sweet Spot“ ist eine Art von Agierfähigkeit, die eine Person ausüben kann, ohne die Agierfähigkeit der anderen zu beeinträchtigen. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um eine kollektive Handlungsfähigkeit, d. h. um die Fähigkeit, in Symbiose mit anderen zu handeln und sich an kollektiven Entscheidungen zu beteiligen. Diese Art des Handelns wird uns eher zu einer nachhaltigen Umgebung führen, denn Entscheidungen zur Verbesserung des Gemeinwesens sind am einfachsten zu erreichen: Sie sind einfach am wenigsten umstritten, weil sie allen zugute kommen. Nur eine Machtkonzentration würde sich ihnen widersetzen.
Was ist die Lösung?
1. Erfahrung mit der Realität
Individuelle Unternehmungen sind mit individuellen Risiken verbunden. Das Risiko zu mindern und sich von Fehlern zu erholen, ist auch eine Fähigkeit. Du kannst damit beginnen, indem du auf vorgefertigte Lösungen verzichtest. Repariere zum Beispiel deine eigene Ausrüstung und Kleidung, wenn du kannst. In alternativen Kreisen sind genau aus diesem Grund Reparatur-Cafés entstanden. Anstatt eine Tour zu buchen, informiere dich vorher über dein Ziel und gehe auf eigene Faust los. Benutze eine Karte und einen Kompass anstelle einer GPS-App.
Eltern zögern, ihre Kinder der Realität auszusetzen, weil sie Angst vor Verletzungen haben. So berechtigt diese Angst für ein einzelnes Kind auch sein mag, sie hat katastrophale kollektive Folgen. Sie züchtet eine Generation von Bürger:innen ohne Selbstvertrauen heran, die um jeden Preis auf externe, meist marktwirtschaftliche Lösungen angewiesen sind.
2. Beteiligung an kollektiven Strukturen
Mangelnde Erfahrung mit kollektiven Strukturen macht es den Bürger:innen wiederum schwer, sich andere Lösungen als die des freien Marktes vorzustellen.
Beispiele sind der Beitritt zu einem gemeinnützigen Verein, die Gründung eines Hausprojekts oder einer Foodcoop. Außerdem kann man einer Gewerkschaft beitreten oder sogar in den örtlichen Bauausschuss gewählt werden.
Hinweise aus der Vergangenheit
Demokratie: Im Neuengland des 19. Jahrhunderts wurden die meisten Entscheidungen, die das lokale Leben betrafen, in Stadtversammlungen getroffen, an denen die Bürger:innen direkt beteiligt waren. Zwar konnten nur registrierte Wähler wählen, aber jeder konnte seine Meinung äußern. Viele Städte in Neuengland halten immer noch Stadtversammlungen ab, auch wenn die Beteiligung nicht mehr so groß ist wie früher.
Handel: In einer Zeit, in der es kaum Papiergeld gab, wickelten die Stadtbewohner:innen ihre Geschäfte mit Geschäftsbüchern ab. Der Verkauf eines Sattels zum Beispiel wurde in das Hauptbuch des Sattelmachers eingetragen. Die Bäuerin, die den Sattel gekauft hatte, verkaufte dem Sattler vielleicht Getreide gegen einen Eintrag in ihrem eigenen Hauptbuch. Am Ende des Jahres wurden die Konten ausgeglichen, indem Dritte die Schulden von Zweiten bezahlten und so weiter. Auf diese Weise waren die Bewohner:innen des ländlichen Neuenglands von den Unwägbarkeiten des Finanzsystems einigermaßen abgeschirmt. Wenn dir das zu kompliziert vorkommt, denk daran, dass auch Menschen mit einer nur 8-jährigen Schulbildung dazu in der Lage waren.
Versicherung: Im 18. Jahrhundert schlossen die meisten Arbeiter Lebens- oder Krankenversicherungen bei so genannten „Friendly Societies“ ab. Die Mitglieder zahlten Beiträge, oft bei einem festlichen monatlichen Treffen in einer Kneipe oder Taverne – daher der Name – und erhielten in Notzeiten Zahlungen. Freundschaftsgesellschaften wurden von gewählten (unbezahlten) Vorstandsmitgliedern verwaltet. Es gab keine Anteilseigner. Ende des 19. Jahrhunderts waren die „Friendly Societies“ kein Nischenphänomen mehr: Sie deckten den größten Teil des persönlichen Versicherungsbedarfs in Großbritannien ab. Überraschenderweise war die durchschnittliche Größe der Friendly Society nicht sehr groß und beschränkte sich manchmal auf eine einzige Stadt oder ein Dorf.
Nachhaltigkeit: Die Bauernhöfe des neunzehnten Jahrhunderts waren verblüffend selbstständig. Das Transportwesen bestand aus Kutschen und Pferden, so dass die Herstellung von Waren vor Ort oft die einzige vernünftige Lösung war. Für die Wasserversorgung wurden Brunnen gegraben und Gruben als Latrinen angelegt. Die Ernährung war saisonal. Da es keine Kühlmöglichkeiten gab, musste Gemüse in Dosen eingemacht werden, wenn es verfügbar war. Tischabfälle wurden in Eintöpfen wiederverwertet. Zu Beginn des Jahrhunderts wurde üblicherweise der Stoff von den Töchtern gesponnen und gewebt, die Kleidung von den Großmüttern genäht. Kleidung wurde repariert, bis sie zu Lumpen wurde, und Lumpen wurden repariert, bis sie schließlich zu Teppichen für die Küche gewebt wurden. Auf einem Bauernhof im 19. Jahrhundert gab es fast keinen Abfall.
Das Leben auf einem solchen Bauernhof stellt sich nur für die ganz Naiven als Alternative zum modernen Leben dar: Es ist sehr harte Arbeit. Aber es zeigt, in welchem Maße es möglich ist, in einer kapitalistischen Zivilisation autonom zu sein.
Warnungen aus der Zukunft
Mechanische Automatisierung und künstliche Intelligenz stehen an der Schwelle zur Entlassung vieler Gruppen von Arbeitnehmer:innen. Nicht nur Fabrikarbeiter:innen und Angestellte in der Gastronomie, sondern auch Anwält:innen und Finanzanalyst:innen. Diese Menschen werden eine Verwendung für ihre Zeit brauchen; am nützlichsten wäre es, Aspekte der Schattenwirtschaft ihrer Vorfahren wiederherzustellen.
Die Gründe für den Zusammenbruch unserer Zivilisation sind bereits offensichtlich. Der Kapitalismus kann nicht auf eine weniger profitable Zukunft reagieren, solange es eine profitablere Gegenwart gibt. Das zeigt uns, dass wir Sekundärsysteme brauchen. Sie müssen eingerichtet und getestet werden, bevor die traditionellen Märkte und Finanzsysteme zusammenbrechen.
Agierfähigkeit ist unumgänglich, wenn die Zukunft möglich ist.
Fazit
Niemand kennt die wahre Natur unserer Realität. Sie könnte eine Computersimulation weit in der Zukunft sein. Du könntest in einem Krankenhaus im Koma liegen und dein jetziges Leben träumen. Dass du Erfahrungen machst, ist das Einzige, was du mit Sicherheit wissen kannst. Diese können dein Reichtum oder deine Armut sein, je nachdem, wie du dich entscheidest.