Zitier-Journalismus

Der Journalismus ist in einer prekären Lage: Verantwortungsbewusster Journalismus ist wohl eine Voraussetzung für eine gesunde Demokratie, aber verantwortungsbewusste Nachrichtensender sind größtenteils unbezahlt. Die Stimme einer gut informierten Bürgerin zählt jedoch genauso viel wie die eines Bürgers, der durch Internetmüll informiert wird.

Der Kapitalismus hat dem Journalismus brutal zugesetzt, und diese Feststellung ist kaum umstritten. Unternehmensfusionen und das Streben nach größerer Rentabilität haben die Zahl der investigativen Mitarbeiter:innen verringert. Bahnbrechende Geschichten entstehen eher durch undichte Stellen als durch monatelangen investigativen Journalismus. Ein:e produktive:r Journalist:in schreibt viele Artikel, die nicht unbedingt aufschlussreich sind.

Erschwerend kommt hinzu, dass eine Zeitung, die unvorteilhafte Artikel über einen Anzeigenkunden oder eine potenzielle Anzeigenkundin schreibt, oft mit Konsequenzen rechnen muss. Bei Unternehmen wie Twitter könnte man dies als wohlverdiente Strafe ansehen, bis man merkt, dass dies in aller Stille ständig mit allen Nachrichtenagenturen geschieht.

Diese drei Probleme zeigen uns, dass der Kapitalismus ein Problem für den Journalismus ist, keine Lösung.

Finanzierungsalternativen

Dies ist nicht die einzige Möglichkeit, Journalismus zu finanzieren. Auch die Wissenschaft hat die Aufgabe, Informationen für das öffentliche Wohl zu produzieren. Dies ist die Domäne von Universitäten, nicht von Unternehmen. Die Wissenschaft wird größtenteils staatlich finanziert, aber nicht von der Regierung beeinflusst: Zuschüsse werden von Gremien aus Wissenschaftler:innen vergeben, nicht von politischen Beauftragten und nicht von Investor:innen. Die Zuschüsse werden von den Universitäten selbst verwaltet, nicht von Bürokrat:innen und auch nicht von Investmentgesellschaften.

Wenn ein:e Wissenschaftler:in eine Behauptung aufstellt, stellen andere Wissenschaftler:innen sie in Frage. Sie können einen Rückzug erzwingen und rücksichtslose Wissenschaftler:innen professionell isolieren. Die Wissenschaft ist selbst nicht über jede Kritik erhaben, aber sie ist zumindest nicht parteiisch, und sie ist nicht in der Lage, „falsche Wissenschaft“ zu verbreiten.

Die Wissenschaft hat ein inoffizielles Bewertungssystem, das Zitate einbezieht. Ein:e Wissenschaftler:in kann für eine Beförderung in Betracht gezogen werden, die zum Teil auf der Anzahl der Artikel basiert, in denen sie:er zitiert wird. Mit anderen Worten: Es reicht nicht aus, produktiv zu sein. Die Universitäten wollen wissen, wie die Arbeit einer Wissenschaftlerin in der wissenschaftlichen Gemeinschaft angesehen ist. Ein produktiver Wissenschaftler ist nicht unbedingt ein guter Wissenschaftler. Wenn die Artikel einer Wissenschaftlerin von vielen anderen zitiert werden, ist das ein Zeichen dafür, dass die Wissenschaftlerin einflussreich ist.

Von der Regierung finanzierter Journalismus

Wenn eine Zeitung in dem Maße profitabel wäre, wie sie zitiert wird, würde sich das Spielfeld völlig verändern. Statt um Klicks zu konkurrieren, was Rücksichtslosigkeit und Sensationslust fördert, würde eine Zeitung für das Verfassen bahnbrechender Artikel belohnt, auf die andere Zeitungen verweisen. Während des Watergate-Skandals zitierten alle Zeitungen die Washington Post, weil diese Zeitung die Ermittlungen durchgeführt und die Geschichte publik gemacht hatte.

Mehr Zitate würden sich in höheren staatlichen Zuschüssen niederschlagen.

Es gibt bereits Beispiele für Medien, die von den Steuerzahler:innen unterstützt werden, z. B. PBS in den USA und die ARD in Deutschland. Verlockenderweise würde dasselbe System unabhängige Blogger:innen für gründliche Recherchen belohnen. Für eine einzelne Person käme die Enthüllung einer Geschichte vom Ausmaß der Iran-Contra-Affäre einem Lottogewinn gleich.

Sensationslust besiegen

Der Zitierjournalismus löscht die rechtsextreme Propaganda nicht aus. Zumindest einige würden in diesem Fall durch staatliche Zuschüsse subventioniert werden. Politische Homogenität ist jedoch nicht das Ziel und sollte es auch nicht sein. Die Sensationslust ist das Problem, das es zu bekämpfen gilt. Sensationslust jeglicher Art würde aus demselben Grund unterbunden: Sensationslustige Behauptungen müssen nicht zitiert werden. Diese Artikel beruhen auf falschen Behauptungen oder sind reine Spekulation. Falsche Behauptungen mögen zwar die Verkaufszahlen steigern, aber sie führen nicht zu mehr Zitaten. Beim Zitierjournalismus würde eine Zeitung, die falsche Behauptungen aufstellt, Gefahr laufen, beruflich ausgegrenzt zu werden.

Allerdings würde ein Kreis von Neonazi-Zeitschriften bei einem Zitier-Ranking nicht unbedingt sein eigenes Ansehen durch gegenseitiges Zitieren steigern. Eine Zeitung, die viel zitiert wird, würde den Zitaten, die sie macht, dieses Gewicht verleihen. Dies ist vergleichbar mit dem Rankingsystem von Google: Eine Website, die von einer bekannten Website verlinkt wird, hat ein höheres Ansehen als eine Website, die von einer unbekannten Website verlinkt wird.

Mehr Chancen für alle

Ein gewichtetes Zitiersystem gibt kleinen Zeitungen den Anreiz, bahnbrechende Geschichten zu veröffentlichen. Als der Marion County Record im Jahr 2023 von der örtlichen Polizei durchsucht wurde, dokumentierte er seinen Widerstand und erlangte dadurch landesweite Aufmerksamkeit. Nachdem der Ouray County Plaindealer im Jahr 2024 einen Artikel über den örtlichen Polizeichef veröffentlicht hatte, wurden auf mysteriöse Weise alle gedruckten Ausgaben der Zeitung gestohlen. Die Zeitung entfernte ihre Bezahlschranke im Internet, berichtete aggressiv über ihren eigenen Fall und versprach, eine weitere Auflage zu drucken. Solche untypischen Mutproben wären bei einem auf Zitaten basierenden System viel häufiger zu beobachten.

Vorhersehbare Kritik

Der auf Zitaten basierende Journalismus unterliegt der gleichen Kritik wie die Wissenschaft, nämlich der, dass er eine Monokultur oder eine Echokammer schafft. Der klickbasierte Journalismus ist jedoch nicht besser. Mit anderen Worten: Der zitatbasierte Journalismus hat einen Nachteil, vermeidet aber zwei.