Warum Wahrheit irrelevant ist

Post-Truth Informationssysteme

Netter Kerl, gut aussehender Kerl, kommt herein – „Donald, wir haben kein Handelsdefizit.“ Er ist sehr stolz, weil alle anderen, weißt du, wir werden fertiggemacht.
… Also, er ist stolz. Ich sagte: „Falsch, Justin, doch.“ Ich wusste es nicht einmal. … Ich hatte keine Ahnung. Ich sagte nur: „Du liegst falsch.“

Am 14. März 2018 gab US-Präsident Donald Trump bei einer Spendenaktion zu, dass er eine Diskussion mit dem kanadischen Premierminister Justin Trudeau geführt hatte, ohne zu wissen, ob seine Behauptungen wahr waren. Laut Trumps eigener Regierung (US-Außenhandelsministerium) hatten die USA kein Handelsdefizit, sondern einen Überschuss.

Diese Geschichte zeigt, dass die Wahrheit in dieser Angelegenheit eigentlich irrelevant ist. Trump mag damit prahlen, falsche Behauptungen aufzustellen. Was wirklich wichtig ist, ist dass die USA wieder großartig sind. Die USA können ihre Nachbarländer und Handelspartner:innen einschüchtern. Wähler:innen, die sich unsicher fühlen, können feststellen, dass sie sich viel besser fühlen, wenn sie einfach im Gewinner:innenteam sind. Deshalb ist es den Trump-Anhänger:innen zu Recht egal, ob Donald Trump die Wahrheit sagt oder ob er überhaupt eine sinnvolle Politik verfolgt. Er ist ein Bully, und er ist ihr Bully.

Während Trump-Kritiker:innen sich über seinen lockeren Umgang mit der Wahrheit beschwerten, hatten sie die wichtigste Beobachtung übersehen: Niemanden sonst interessierte es.

Transaktionaler Wert

Ein Stück Papier hat einen transaktionalen Wert, wenn es gegen Waren und Dienstleistungen eingetauscht werden kann, z. B. ein Dollarschein. Eine Tatsache, die einen transaktionalen Wert hat, kann dazu verwendet werden, Vorteile zu erlangen oder Einfluss auszuüben.

Eine wahre Behauptung (eine Tatsache) kann einen Transaktionswert haben oder auch nicht. Zu wissen, dass alle besser Schach spielen ist als du, ist keine Tatsache, die du nutzen kannst, um etwas zu erreichen. Eine vorteilhafte Tatsache wäre zu wissen, dass Übung dein Ranking verbessern kann.

Eine falsche Behauptung kann einen Transaktionswert haben oder auch nicht. Der Glaube, dass man nach Walhalla kommt, wenn man auf dem Schlachtfeld tapfer stirbt, könnte dazu führen, dass man tapferer kämpft und dadurch der eigenen Seite einen operativen Vorteil verschafft.

Der Transaktionswert ist wichtiger als die Wahrheit. Das ist einfach die Logik dieser Welt. Wenn du mit Informationen, die einen Transaktionswert haben, Vorteile gegenüber deine:n Gegner:innen erzielst, dann muss es dir nicht wichtig sein, ob sie wahr sind oder nicht.

Informationssysteme

Ein Informationssystem ist etwas, das Informationen speichert, auswertet, löscht und überträgt. Ein Informationssystem verhält sich orthogonal zur Realität. Zum Beispiel führt eine Religion diese vier Vorgänge durch, und zwar auf eine Weise, die das Verhalten ihrer Anhänger:innen zum eigenen Vorteil der Religion verändert. Die Behauptungen, die sie aufstellt, können etwas mit der Realität zu tun haben oder auch nicht. Manchmal ist es genau die irreale Natur der Behauptungen, die die Mitglieder dazu bringt, das System schützen und fördern zu wollen. Die Informationssysteme, die geschützt und gefördert werden, sind diejenigen, die überleben. Es gibt kein „richtig“ und „falsch“.

Sobald sich Menschen mit einem Informationssystem identifiziert haben – das könnte genauso gut eine politische Partei oder ein Wirtschaftssystem sein – und sie zu Anhänger:innen werden, bewerten sie jede neue Information, die sie erhalten und die für ihr Paradigma relevant ist, danach, wie vorteilhaft sie für die Verbreitung ihres Paradigmas ist. Auch hier liegt der Grund nicht darin, dass eine bewusste Entscheidung getroffen wurde. Der Grund ist, dass Informationssysteme, die sich nicht selbst schützen und fördern, Gefahr laufen, zu verschwinden, und daher nicht mehr vorhanden wären, um sie zu beobachten und zu kommentieren. Es handelt sich um eine undurchdachte, unnatürliche Selektion.

Wenn Trump-Anhänger:innen in den Mainstream-Medien auf abfällige Informationen über Trump stoßen, können sie diese sofort als Falschnachrichten abtun – nicht weil sie Behauptungen überprüft haben, sondern weil die Behauptung von einem gegnerischen Informationssystem stammt. Andererseits müssen Informationen, die das Paradigma stützen, nicht überprüft werden. Wenn dir jemand sagt, dass deine Bank am Sonntag geschlossen ist, und du glaubst, dass alle Banken am Sonntag geschlossen sind, brauchst du keinen Beweis zu verlangen.

Die oben erwähnte Studie (Verbreitung von Paradigmen), die eine Art Umfrage war, ist entmutigend, denn sie zeigt uns, dass Facebook und Konsorten nicht allein für die Entstehung von Echokammern verantwortlich sind, sondern dass diese spontan überall dort entstehen, wo ein Glaubenssystem aktiv ist. Sie zeigt uns, dass es wirkungslos ist, Wahrheit in politische Diskussionen einzubringen. Das war schon immer so.

Es ist wichtig zu untersuchen, warum wir Informationssysteme Informationen vorziehen. Die erste Antwort ist, dass die Welt ein äußerst komplizierter Ort ist und wir einige Vereinfachungen brauchen, um sie mental handhabbar zu machen. Da Vereinfachungen eine Art Fehler sind, brauchen wir gemeinsame Fehler, um zu kommunizieren. In der Tat ist es so, dass, wo immer man öffentliche Zwietracht sieht, diese zwischen Vertreter:innen verschiedener Informationssysteme besteht. Sie weisen auf die Fehler des:der jeweils anderen hin, aber diese Fehler können nicht aufgegeben werden, ohne das Wirtsinformationssystem zu beschädigen.

Der zweite Grund ist überzeugender: die Gruppenzugehörigkeit. Du bist Anhänger:in der Gruppe, deren Überzeugungen du teilst, und die Gruppenzugehörigkeit muss auf gemeinsamen Fehlern basieren. Die gemeinsamen Überzeugungen müssen nicht unbedingt auf Fakten und Logik basieren. Es gibt keine Gruppe, die auf dem Glauben an die Schwerkraft basiert. Die Idee ist zu weit verbreitet. Die Überzeugungen müssen auf etwas anderem basieren, auf einer Vereinfachung der Gegenwart, einer irrealen schönen Zukunft oder einer rechtschaffenen besseren Vergangenheit. Deshalb können wir uns nicht entziehen und gleichzeitig für irgendjemanden relevant bleiben.

Wir leben nicht in einer Welt der Wahrheiten, sondern in einer Welt der Informationssysteme. Ein Informationssystem ist ein Paradigma für die Schaffung, Förderung und Widerlegung von Behauptungen, basierend auf dem Nutzen für das System. Eine falsche Behauptung mag wertlos sein, aber ein Informationssystem, das auf falschen Behauptungen basiert (wie ein Leben nach dem Tod), ist nicht unbedingt wertlos.

Perfekte Informationssysteme

Religionen müssen nicht auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden, weil sie den Wert eines Informationssystems innehaben. Sie schaffen, fördern und widerlegen Behauptungen, die auf der Nützlichkeit der Behauptungen für ihr eigenes Überleben und ihre eigene Ausbreitung basieren. Zum Beispiel ist es egal, ob Gott die Erde in sieben Tagen erschaffen hat. Der Paradigmenwert besteht darin, dass ihre Anhänger:innen glauben, dass sie in einer Umgebung leben, die für ihr Wohlergehen entworfen und hergestellt wurde. Sie können ihre Schwierigkeiten als Prüfungen betrachten, die ein sehr mächtiges und liebevolles Wesen für sie geschaffen hat, damit sie als Menschen wachsen können. Das hat einen transaktionalen Wert. Das hat Auswirkungen auf die psychische Gesundheit.

Wenn du ein:e Anhänger:in Darwins bist und Schwierigkeiten und Rückschläge erlebst, dann deshalb, weil du Teil eines natürlichen Systems bist, dem dein Wohlergehen völlig gleichgültig ist. Deine Prüfungen und Leiden haben keine Bedeutung. Das ist natürlich deprimierender, als in einer Umgebung zu leben, die für dein Wohlergehen geschaffen wurde.

Wenn man zwei Gesellschaften miteinander vergleicht, eine mit religiöser und eine mit darwinistischer Weltsicht, dann könnte die religiöse Gesellschaft tatsächlich lebendiger sein, einfach weil die Menschen weniger anfällig für Depressionen sind, weniger wahrscheinlich aus Frustration und Verzweiflung Selbstmord begehen und eher versuchen, sich von ihrer besten Seite zu zeigen, um ihrem himmlischen Wohltäter zu gefallen. Deshalb müssen die Behauptungen religiöser Texte keine historischen Fakten sein. Wichtig ist, dass die religiösen Texte den Anhänger:innen eine Möglichkeit bieten, die Welt zu verstehen, was positive Folgen für die Religion haben könnte.

Noch wichtiger ist, dass jede:r, der:die die vereinfachten Erklärungen einer Religion nicht akzeptiert, ein schlechter Mensch ist, ein:e Agent:in des Teufels, irgendwie eine Bedrohung, die bestraft oder beseitigt werden muss. Dadurch entsteht eine Welt, in der religiöses Denken immer dominanter wird, weil Menschen, die dies ablehnen, zu Opfern von Pogromen und Kriegen werden – oder in einer weniger strengen Gesellschaft nicht wählbar sind oder als Bewerber:innen für einen Job nicht bevorzugt werden. Aus diesem Grund sind Religionen perfekte Informationssysteme oder haben das Potenzial dazu.

Ein anschauliches Beispiel für die Perfektion der geschlossenen Logik ist die Feindseligkeit amerikanischer Christ:innen gegenüber der Sexualerziehung. Sie glauben, dass Sex etwas ist, das man in der Hochzeitsnacht herausfindet, und dass es nur ein Ergebnis gibt, sodass man sich vorher keine Gedanken über die Details machen muss. Das Narrativ besagt, dass man auf Abwege gerät, wenn man vorher zu viel weiß. Du wirst vom göttlichen Plan abweichen. Die Folge davon ist, dass in Regionen, in denen diese Art des Denkens am weitesten verbreitet ist, die Schwangerschaftsrate bei Teenagerinnen sehr hoch ist. Auf den ersten Blick scheint es widersprüchlich, dass Menschen, die Teenager:innen sexuelle Abstinenz predigen, die meisten Teenage-Schwangerschaften haben sollten. Der Transaktionswert ist jedoch klar: Je mehr Menschen der Sexualerziehung misstrauen, desto mehr Unfälle gibt es und desto mehr Kinder gibt es, und diese Kinder werden mit demselben Misstrauen erzogen. Es ist ein sich selbst aufrechterhaltendes Phänomen. Menschen mögen durch den Glauben an Abstinenz benachteiligt sein, aber nicht die Religion, die darauf besteht. Deshalb sind die Fakten irrelevant.

Normalerweise denken wir, dass sich die Wahrheit selbst repliziert: Menschen sollten die Wahrheit verbreiten, weil die Wahrheit nützlich ist. Im Zeitalter der Mikroaggressionen wirkte die Wahrheit jedoch manchmal unsensibel und politisch inkorrekt. Informationssysteme, die mit Transaktionswerten handeln, hatten dagegen die Oberhand.

Die Botschaft, die man daraus mitnehmen kann, ist dass ein Paradigma nicht auf historischen Fakten basieren muss, keinen historischen Wert haben muss und nicht einmal sinnvoll sein muss. Es muss sich nur selbst verteidigen, für sich werben und sich selbst replizieren – mit allen Mitteln.

Gegnerische Systeme

Es gibt zwei Arten von Mitgliedschaften in Informationssystemen, die von Bedeutung sind. Eine ist eine Mitgliedschaft, die für die Anhänger:innen von Vorteil ist. Zum Beispiel könnte eine Gruppe rassistisch sein und glauben, dass ihre Mitglieder der bevorzugten Rasse angehören. Die zweite Art ist die Mitgliedschaft in Paradigmen, die den Interessen der Anhänger:innen zuwiderlaufen. Ein Beispiel hierfür könnte eine Frau sein, die einem Patriarchat treu ergeben ist, das sie unterdrückt. Soziale Medien könnten ein Beispiel für ein System sein, das den einzelnen Benutzer:innen scheinbar soziale Vorteile bietet, aber gleichzeitig die Demokratie untergräbt, der die Benutzer:innen ebenfalls angehören.

Es gibt auch feindliche Systeme, denen das Opfer nicht freiwillig beigetreten ist. Beispielsweise könnte eine Wissenschaftlerin feststellen, dass Kreationisten versuchen, ihre Finanzierung zu untergraben oder zu streichen. Der Kalte Krieg war ein Beispiel für zwei gegensätzliche Informationssysteme, in die man einfach hineingeboren wurde. Das Finanzsystem erwies sich als feindlich gegenüber allen Menschen, bis auf ein paar Tausend, indem es derivative Finanzinstrumente schuf, über deren Gefahren log und sich für die Aufhebung des gesetzlichen Schutzes einsetzte.

Wichtig ist nicht, ob die Behauptungen eines Systems der Wahrheit entsprechen. Über die Fakten muss nicht diskutiert werden. Wichtig ist, von welchem System die Behauptungen stammen und welche Ziele dieses System verfolgt.

Schlussfolgerung

Wenn du eine intelligente, gebildete Person bist, musst du dich fragen:

  1. Bin ich Anhänger:in von Informationssystemen, die mein Wohlbefinden und Glück fördern?
  2. Gibt es andere Informationssysteme, die mir gefährlich werden könnten?
  3. Wenn ja, habe ich irgendwelche Mitgliedschaften, mit denen ich die Gefahr eindämmen kann?

Man könnte versucht sein zu glauben, dass man genau dann auf gegnerische Systeme stößt, wenn man danach sucht. Mit anderen Worten, dies könnte eine sich selbst erfüllende Prophezeiung sein. Das mag sein, aber ist es wirklich so, dass der Rechtspopulismus in Europa erstarkt ist, weil du danach gesucht hast? Oder liegt es daran, dass sie dein Fake-News-Informationssystem als feindlich identifiziert haben?

Die meisten gebildeten Menschen stellen sich diese Fragen nicht. Sie sehen selten den Nutzen eines Wettrüstens der Informationssysteme. Sie könnten es unpassend finden, und das könnte es auch sein. Die Frage ist, ob diese Zimperlichkeit Teil eines Informationssystems ist, das gerade durch ein Informationssystem ersetzt wird, dem diese Zimperlichkeit fehlt.

Anthony war lange Zeit ehrenamtlich bei Organisationen wie Amnesty International und Union for Concerned Scientists tätig. Diese Erfahrungen führten zur Gründung des Projekthauses Schwarz10, das die Infrastruktur für Aktivist:innenprojekte wie Rockzipfel und Extinction Rebellion bereitstellte. Außerdem bot es zahlreichen externen Projekten gelegentlich Raum für Treffen. Die verschiedenen Informationsbroschüren, die in dieser Zeit entstanden sind, bilden die Grundlage für den Lehrplan der Activersity.

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